17.01.2024 | Pharma Innovation

Interview mit Beate Müller-Tiemann | CTO von Cytiva

Es gibt kaum bessere Ansprechpartner für Fragen rund um die pharmazeutische Wertschöpfungskette. Deshalb haben wir uns mit Cytivas CTO Beate Müller-Tiemann unterhalten.

ACHEMA Inspire: Es handelt sich um eine noch junge Branche, die aber in nur wenigen Jahrzehnten die Medizin revolutioniert hat. Wie weit ist sie Ihrer Meinung nach in dieser Zeit gekommen?

  • __Die Biopharma-Industrie hat in der Tat über Jahrzehnte hinweg viele bahnbrechende Technologien entwickelt und Standards in einem nie dagewesenen Ausmaß gesetzt. So verbessern beispielsweise rekombinante Technologien die Patientensicherheit, indem sie Proteinmedikamente ersetzen, die aus menschlichem oder tierischem Gewebe gewonnen werden, wie etwa rekombinantes Humaninsulin oder rekombinante Blutfaktoren.

    Insgesamt würde ich sagen, dass die Biopharmabranche eine bemerkenswert schnelle Übernahme und Assimilierung der modernsten Entdeckungs- und Herstellungstechnologien vorweisen kann. Dies gilt insbesondere für die In-vitro-Erzeugung monoklonaler Antikörper für pharmazeutische Anwendungen.

    Dies hat zu den ersten rekombinanten Antikörpermedikamenten wie Herceptin oder Humira geführt, mit denen ein ungedeckter medizinischer Bedarf gedeckt werden kann. Ermöglicht wurde diese Revolution durch die Zusammenarbeit von Wissenschaft, Biotechnologie, großen Pharmaunternehmen und Zulassungsbehörden, die zum Wohle der Patienten alle an einem Strang ziehen.

    Die Biopharmabranche und ihr Ökosystem haben ihre volle Innovationskraft entfaltet, was bedeutet, dass sie während der Covid-19-Pandemie eine noch nie dagewesene Geschwindigkeit, Beweglichkeit und Zielstrebigkeit an den Tag gelegt haben. Dies beflügelt nun den Fortschritt der Branche in neuen Bereichen wie mRNA-basierte Arzneimittel und Impfstoffe, Oligonukleotid-Medikamente und -Therapien.

    Vor allem die Zell- und Gentherapien haben das Leben der Patienten und ihrer Familien wirklich zum Besseren verändert. Auch bei den regenerativen Arzneimitteln wird sich ein Paradigmenwechsel vollziehen, da neue Zelltherapien in die klinische Entwicklung eintreten. Wir dürfen nicht vergessen, dass digitale Werkzeuge ebenfalls eine wichtige Rolle spielen werden und unsere Branche noch stärker und vor allem schneller verändern werden.

ACHEMA Inspire: Der jüngste Resilienzbericht von Cytiva war der bisher umfangreichste. Welches Bild zeichnen die Ergebnisse Ihrer Meinung nach für die Branche?

  • __Der Gesamtwert für die Resilienz der globalen Biopharmabranche im Jahr 2023 liegt bei 6,08 und damit niedriger als der Wert von 6,60 im Jahr 2021. Dieser Rückgang könnte auf einen breiteren Datensatz zurückzuführen sein, der öffentlich verfügbare Daten zu Biopharma-Trends enthält und einen umfassenderen Überblick über die Branche bietet.

    In einigen Bereichen, wie z. B. der Biopharma-Herstellung, reift die Branche weiter: 33 Prozent der Befragten geben an, dass die Herstellung von Biopharmazeutika erschwinglicher geworden ist, und 21 Prozent der befragten Führungskräfte aus der Pharmaindustrie erwarten in den nächsten drei Jahren einen drastischen Anstieg der Produktionskapazitäten für Biopharmazeutika.

    Dementsprechend stabilisieren sich die Lieferketten für Biopharmazeutika. Die Lieferketten für Biopharmazeutika sind nach wie vor recht global, denn die Hälfte der Befragten gab an, dass ihr Land mäßig bis stark von der Einfuhr vieler Vorprodukte für die Arzneimittelproduktion sowie von der Einfuhr pharmazeutischer Fertigprodukte abhängig ist. Der Resilienzbericht weist auch darauf hin, dass die Biopharmabranche mit den Herausforderungen der Pionierarbeit bei neuen Modalitäten wie Zell- und Gentherapien konfrontiert ist, bei denen in Zusammenarbeit mit den Regulierungsbehörden neue Standards entwickelt werden müssen. Dies wird durch die Tatsache veranschaulicht, dass 52 Prozent der Führungskräfte der Meinung sind, dass die Behörden nicht gut darin sind, die Verfügbarkeit spezieller Wege für Zell- und Gentherapien sicherzustellen.

    Zum Thema Fachkräfte ist anzumerken, dass fast 25 Prozent der Führungskräfte in der Pharmaindustrie berichten, dass es eine große Herausforderung ist, Fachkräfte für die Produktion zu finden und zu halten. Dieses Problem wird durch die zunehmende Verschmelzung der KI-Modellierung mit der Forschung noch verschärft, was bedeutet, dass viele Unternehmen nach spezifischeren Fähigkeiten als je zuvor suchen.

    Der Bericht hebt auch die Tatsache hervor, dass die drei am schwierigsten zu gewinnenden und zu haltenden Qualifikationen in der Biopharma-Industrie in Zusammenhang mit der GMP-Fertigung, mit der Forschung und Entwicklung und digitalen Technologien stehen. Dies ist ein Aufruf zum Handeln bei der Aus- und Weiterbildung in diesen Bereichen!

ACHEMA Inspire: Wenn man bedenkt, dass die nächste Generation ein noch nie dagewesenes Maß an Smart Thinking mit sich bringen wird, wo sehen Sie die größten Herausforderungen?

  • __Wenn Sie mit Smart Thinking innovatives Denken meinen: Innovation findet immer an der Schnittstelle von Disziplinen statt. In den neuen Modalitäten müssen Disziplinen wie Molekularbiologie, Zellbiologie, Virologie, biologische Prozessentwicklung, Data Science und Engineering eng zusammenarbeiten, um Innovationen im Bereich der Nukleinsäuretherapeutika oder der Medizin, der synthetischen Biologie, der Prozessentwicklung und des Engineerings im Bereich der Zelltherapien zu ermöglichen. Nur eine solche Interdisziplinarität wird den weiteren Fortschritt in diesem Bereich gewährleisten.

    Wenn Sie mit intelligentem Denken digitale Werkzeuge meinen, konzentrieren wir uns auf vier wichtige technologische Fortschritte, um die Herausforderungen der Branche zu lösen. Dabei handelt es sich um die In-Silico-Prozessentwicklung zur Beschleunigung der Entwicklung hochleistungsfähiger und skalierbarer Prozesse sowie um prädiktive Chargen, um die Häufigkeit von Fehlschlägen oder unzureichenden Ergebnissen zu verringern.

    Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Gesamteffizienz der Anlagen, um die Ausfallzeiten der Kunden durch vorausschauende Wartung und Fernwartung zu verringern, sowie auf anpassungsfähigen Anlagen, um die Transferkosten zu senken, wobei beispielsweise die Virtual-Reality-Schulungssysteme von Cytiva es unseren Mitarbeitern ermöglichen, Prozesse virtuell zu erlernen, bevor sie die Arbeit ausführen.

ACHEMA Inspire: Mit dem Streben nach mehr biopharmazeutischen Produkten steigt auch der Bedarf an entsprechenden Maschinen. Wie gut ist die Industrie aufgestellt, um diese Anforderungen zu erfüllen?

  • __Die Fähigkeit, die Produktion kurzfristig flexibel hoch- oder runterzufahren, ist ein Schlüsselfaktor für die Widerstandsfähigkeit. In vielen Ländern ist dies jedoch nur begrenzt möglich. Zu den wichtigsten Faktoren, die den Produktionsbetrieb behindern, gehören die technologische Kapazität der Produktionsanlagen, ein Mangel an Fachkräften in der Produktion sowie ein Mangel an anderen Fähigkeiten in den Unternehmen und an Flexibilität bei den Zulieferern. Außerdem ist eine behördliche Genehmigung erforderlich. Die Herstellung von Zell- und Gentherapien ist nach wie vor ein sehr komplexer Bereich, und es gibt derzeit nur ein begrenztes Maß an Standardisierung, was es schwierig macht, den Bedarf einer großen Patientenpopulation zu befriedigen.

    Allerdings haben fortschrittliche digitale Technologien wie KI, Robotik und Automatisierung das Potenzial, die Produktion erheblich anzukurbeln und die Hersteller dabei zu unterstützen, die Produktion je nach Bedarf zu erhöhen oder zu verringern. Generell gilt jedoch: Je ausgereifter eine Technologieplattform ist, desto besser ist der Werkzeugkasten für die Entdeckung, Entwicklung und Herstellung ausgestattet, wie wir bei der aktuellen Generation rekombinanter monoklonaler Antikörper beobachten können. Bei den neuen Modalitäten, wie Nukleinsäuretherapeutika und Zell- und Gentherapie, befinden sich die Plattformen noch in der Entwicklung, ebenso wie der Werkzeugkasten. Es gibt also noch viel Raum für Innovationen an der Schnittstelle von Biologie, Ingenieurwesen und digitalen Technologien, um die Entwicklung und Herstellung dieser neuen Modalitäten kosteneffizient und robust zu gestalten.

ACHEMA Inspire: Sie sind bekannt dafür, dass Sie die Vielfalt in Ihren Teams und in Ihrem Arbeitsstil fördern. Inwieweit wird diese Denkweise den Bemühungen um Veränderungen in der Branche zugute kommen?

  • __Fachübergreifendes Arbeiten ist der Schlüssel zur Innovation. Kooperationen können und sollten zwischen Bereichen stattfinden, die bisher als so unterschiedlich und weit voneinander entfernt angesehen wurden, dass es keinen Sinn macht, sich darauf einzulassen. Diese Vielfalt an Hintergründen, Denkweisen und Ansätzen wird zu Durchbrüchen führen, die für die Herstellung neuer Modalitäten erforderlich sind.

ACHEMA Inspire: Was treibt Sie als Vorstandsmitglied der DECHEMA an, sich zu engagieren?

  • __Die DECHEMA ist eine sehr einflussreiche und traditionsreiche Institution in Deutschland und Europa. Mit ihren verschiedenen technischen und wissenschaftlichen Disziplinen ist sie in einer guten Position, um Innovationen in Deutschland voranzutreiben, aber das Potenzial des notwendigen interdisziplinären Ansatzes muss noch genutzt werden. Dies ist meine Aufgabe als Vorstandsmitglied der DECHEMA.

| Originalversion veröffentlicht in ACHEMA Inspire, Ausgabe Dezember 2023 | Deutsche Übersetzung durch DECHEMA Ausstellungs-GmbH |

Autor

ACHEMA Inspire staff

World Show Media

www.worldshowmedia.net

Schlagwörter in diesem Artikel:

#biopharmazeutika, #pharma

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