01.07.2022 | Green Innovation

Interview mit Daniel Witthaut | Cefic

Europa hat kein Geheimnis daraus gemacht, bis 2050 klimaneutral zu werden und so eine führende globale Rolle einzunehmen. Die chemische Industrie wird dabei eine Schlüsselfunktion einnehmen, wie Daniel Witthaut vom Cefic in diesem ausführlichen Interview darlegt.

ACHEMA Inspire: Wie wichtig ist der Beitrag der chemischen Industrie, um die Ziele des Green Deals zu erreichen, insbesondere angesichts ihrer Größe und ihres Einflusses?

  •  __Daniel Witthaut: Cefic unterstützt den Green Deal und das Ziel Europas, bis 2050 klimaneutral zu werden, was einen tiefgreifenden Wandel innerhalb von nur ein oder zwei Investitionszyklen bedeutet. Die chemische Industrie der EU will die Chancen nutzen, die sich aus dem Übergang zu einer klimaneutralen und kreislauforientierten Wirtschaft ergeben. Die Industrie ist auch der Motor für die Verwirklichung der europäischen Ambitionen. Die chemische Industrie beliefert viele strategische Wertschöpfungsketten und ist für Europas starke und nachhaltige Wirtschaft der Zukunft unverzichtbar, da sie in fast jeder strategischen Wertschöpfungskette vertreten ist.
    Das Erreichen dieses Ziels wird nur mit Hilfe von klimaneutralen und kreislaufwirtschaftlichen Lösungen, die die chemische Industrie entwickeln wird, möglich sein. Wir wollen, dass Europa ein globales Innovationszentrum und ein Hotspot für Investitionen in bahnbrechende klimaneutrale und Kreislauftechnologien wird. Doch die Herausforderung, vor der wir stehen, ist immens - nur 30 Jahre bleiben der Industrie und der europäischen Gesellschaft insgesamt, um die notwendigen massiven Veränderungen bei der Energiewende und den Geschäftsmodellen umzusetzen. Der Green Deal erkennt an, dass energieintensive Industrien als Lösungsanbieter für verschiedene Wertschöpfungsketten für den Übergang unverzichtbar sind. Die Klimaneutralität muss im kommenden Klimagesetz klar definiert werden. Ein neuer industriepolitischer Schwerpunkt muss gesetzt werden, um die erforderlichen enormen Investitionen freizusetzen.

ACHEMA Inspire: Wie wird sich die geplante EU-Gesetzgebung in Bezug auf Chemikalien auswirken?

  •  __Daniel Witthaut: Damit befindet sich unsere Branche an einem entscheidenden Scheideweg. Laut einer vom Cefic veröffentlichten Studie könnten allein 12.000 Stoffe potenziell in den Anwendungsbereich von zwei anstehenden Gesetzesvorschlägen fallen - die Änderungen der Verordnung über die Einstufung, Verpackung und Kennzeichnung (CLP) und die Anwendung eines allgemeinen Risikoansatzes (GRA). Die Studie ergab, dass diese Stoffe bis zu 43 Prozent des Umsatzes der europäischen Chemieindustrie ausmachen könnten.
    Nach Anwendung der verschiedenen Gewichtungsfaktoren zur Berücksichtigung der Unsicherheiten bei den Definitionen und Kriterien im GSS kamen die Berater zu dem Schluss, dass das am ehesten betroffene Portfolio bis zu 28 Prozent des geschätzten Umsatzes der Branche ausmachen kann. Die Daten von mehr als 100 europäischen Chemieunternehmen werden in die Folgenabschätzungen der Europäischen Kommission zur Einstufungs-, Verpackungs- und Kennzeichnungsverordnung und zu REACH, den Kernstücken der EU-Chemikaliengesetzgebung, einfließen. Wir haben eine enorme Herausforderung vor uns.

ACHEMA Inspire: Wie wichtig sind Forschung und Innovation?

  •  __Daniel Witthaut: Die chemische Industrie kann in jeder Phase innovative Lösungen anbieten, von der Entwicklung bis zum Ende des Lebenszyklus von Produkten. Wenn es darum geht, den Klimawandel einzudämmen, die natürlichen Ressourcen zu schützen und die Umweltverschmutzung zu bekämpfen, können Antworten nur von innovativen Lösungen und Spitzenforschung kommen. Die von der chemischen Industrie angebotenen Lösungen ermöglichen eine bessere Nutzung von Materialien - durch Recycling und den Einsatz alternativer Rohstoffe. Dies kommt nicht nur dem Chemiesektor selbst zugute, sondern ermöglicht auch den nachgelagerten Industrien, die Kreislaufwirtschaft zu verbessern.
    Die europäische Chemieindustrie investiert mehr als 15 % ihrer Wertschöpfung in neue und verbesserte Produktionsanlagen und -verfahren. Jährlich investieren wir rund 9 Milliarden Euro in Forschung und Innovation für Lösungen im Hinblick auf die Klimaneutralität und die Kreislaufwirtschaft. Wir appellieren jedoch an die europäischen politischen Entscheidungsträger, einen unterstützenden Rahmen für Innovationen zu schaffen. Die Forschungs- und Entwicklungsprogramme der EU sollten zum Beispiel die Förderung von Innovationen bei chemischen Stoffen beinhalten. Wir brauchen den Dialog zwischen Regierungen, der chemischen Industrie und der Zivilgesellschaft, um sicherzustellen, dass Debatten und Entscheidungen in einer zunehmend digitalen Welt auf Fakten und wissenschaftlichem Konsens beruhen.

ACHEMA Inspire: Welche Art von Innovationen haben Sie bisher beeindruckt?

  •  __Daniel Witthaut: Viele davon verändern unsere Welt und erhöhen unsere Lebensqualität: Schauen Sie sich das Gesundheitswesen an, wie die Chemie dazu beigetragen hat, das menschliche Leben durch Mikrochips oder tragbare Technologien zu verbessern und zu verlängern. Medizinische Pflaster zum Beispiel werden auf die Haut eines Patienten geklebt, um die elektrische Aktivität im Gehirn zu messen oder den Blutzuckerspiegel, die Körpertemperatur oder die Herzfrequenz zu bestimmen. Sie sind nicht nur funktionell und angenehm zu tragen, sondern hinterlassen auch einen minimalen ökologischen Fußabdruck. Hier trifft Technologie auf Chemie.
    Dann gibt es noch intelligente Sensoren, die in unsere Kleidung integriert sind, um unseren Puls, unsere Atemfrequenz, unsere Muskelspannung und unsere Form beim Sport zu messen. Oder, auch wenn sie noch nicht auf dem Markt sind, könnten winzige Nanomaschinen zur Herstellung neuer Beschichtungen für Glas und Farbe verwendet werden, so dass Fenster und Solarpaneele sich selbst reinigen, indem sie den Schmutz abstreifen, und Autos ihre eigenen Kratzer reparieren, indem sie Moleküle wieder zusammensetzen.

ACHEMA Inspire: Wie wichtig sind Partnerschaften in diesem Prozess?

  •  __Daniel Witthaut: Zusammenarbeit ist der Schlüssel, um Innovationen in unserer Branche voranzutreiben. Das kann vom Verständnis der Kundenbedürfnisse über die Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen bis hin zum Erreichen der Ziele des Europäischen Green Deal reichen. Partnerschaften können daher von bilateralen Kooperationen bis hin zu multilateralen Partnerschaften reichen. Durch die Zusammenarbeit mit Kunden können wir beispielsweise Produkte anpassen und entwickeln, die ihren Bedürfnissen und dem Gesamtmarkt entsprechen. Während bahnbrechende und umwälzende Innovationen mit einem höheren Maß an Unsicherheit verbunden sind, sind multilaterale Partnerschaften erforderlich.
    Daran könnten Technologieanbieter, Start-ups, Universitäten, Zulieferer, Kunden und Kunden von Kunden beteiligt sein. Ein solches "Innovationsökosystem" bringt die erforderlichen Kompetenzen zusammen, um den Innovationsprozess zu beschleunigen, die Zeit bis zur Marktreife zu verkürzen und das Prozessrisiko zu verringern. Damit ein solches „Innovationsökosystem " erfolgreich sein kann, müssen die Unternehmen über die richtigen Kompetenzen verfügen, um solche Partnerschaften zu erleichtern, insbesondere indem sie ein gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Vision der beteiligten Partner sicherstellen.

ACHEMA Inspire: Sie haben viele Jahre im Ausland verbracht und dabei einige der unterschiedlichsten Kulturen kennen gelernt. Wie hat das Ihr Denken geprägt?

  •  __Daniel Witthaut: Ich habe in der Tat sechs Jahre in Asien gelebt, etwa ein Jahr in den USA und bin viel durch die ganze Welt gereist. Diese Erfahrungen haben mich persönlich bereichert und ich bin sehr froh, dass ich die Chance hatte, meine Familie nach Brüssel zu holen, damit auch meine Kinder die Möglichkeit haben, in einem multikulturellen Umfeld aufzuwachsen. Vor allem die Erfahrung in Asien, wo ich mit Kollegen aus 16 sehr unterschiedlichen Ländern des asiatisch-pazifischen Raums zusammengearbeitet habe, hat einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Diese Erfahrung hat mich gelehrt, zu versuchen, ein tieferes Verständnis zu erlangen, bevor ich vorschnell zu einem Schluss komme.
    Ein sehr einfaches Beispiel soll dies verdeutlichen: Ich habe einmal die gleiche Anfrage an meine 16 Kollegen in den verschiedenen Ländern geschickt, zwei von ihnen haben nicht geantwortet. Der eine hat einfach nicht geantwortet, der andere nicht, weil er Angst hatte, eine E-Mail an einen Kollegen aus der Unternehmenszentrale zu schicken.
    Ein einfaches Beispiel, das aber zeigt, dass das, was oberflächlich betrachtet gleich aussieht, sehr unterschiedliche Gründe hat, die auf unterschiedliche Weise angegangen werden müssen. Eine weitere wichtige Auswirkung auf mein Denken ist, dass wir trotz gewisser kultureller Unterschiede alle Menschen sind, mit den gleichen Gefühlen gegenüber unseren Familien oder der Motivation, unsere Ziele zu erreichen und geschätzt zu werden. Auch wenn die Dinge oberflächlich betrachtet unterschiedlich erscheinen mögen, so haben wir doch im Kern die gleichen Werte, unabhängig von unserer Nationalität oder unserem Hintergrund. Die Herausforderungen von heute können wir nur gemeinsam und über Grenzen hinweg bewältigen, und ich bin optimistisch, dass wir durch Zusammenarbeit auch in Zukunft erfolgreich sein können.

| Originalversion veröffentlicht in ACHEMA Inspire, Ausgabe Juli 2022/Deutsche Übersetzung durch DECHEMA Ausstellungs-GmbH |

Autor

ACHEMA Inspire staff

World Show Media

www.worldshowmedia.net

Schlagwörter in diesem Artikel:

#nachhaltigkeit

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