05.09.2022 | Digital Innovation

Digitalisierung als Chance für die Prozessindustrie

Was bedeutet die Digitalisierung für die Prozessindustrie? Auf der ACHEMA 2022 wurde das oft abstrakte Thema greifbar – und trippelte auf Stelzenbeinen durch die Messehalle.

Der Innovationswettbewerb „Plant Service Robot“ in Halle 11.0 war ein regelrechter Besuchermagnet. Kein Wunder, denn dort war die digitale Zukunft zum Greifen nah. Sechs Teams traten mit ihren Robotern gegeneinander an. Die autonomen Serviceroboter mussten in verschiedenen Aufgaben unter Beweis stellen, dass sie fit für den Einsatz in chemischen Produktionsanlagen sind. Dazu zählten ein Parcours mit Industrietreppe, unterschiedlichen Bodenbelägen und Hindernissen, das Ablesen von Daten und das Nehmen sowie Transportieren einer Probe. Einige der „neuen Kollegen“ sind wie Hunde auf vier Beinen unterwegs, andere auf Rädern oder mit Kettenantrieb. Die Aufgaben erledigen sie mithilfe von Kameras, Sensoren und Greifarmen.

„Was wir hier sehen, ist ein Riesensprung. Die Entwicklung läuft sozusagen mit Lichtgeschwindigkeit. Noch vor drei Jahren waren solche Roboter undenkbar. Bislang war es unvorstellbar, dass mobile Systeme autonom arbeiten,“ sagte Dr. Charly Coulon. Dessen Unternehmen Invite GmbH hat den Wettbewerb gemeinsam mit BASF, Bayer, Boehringer Ingelheim, Merck und Wacker ins Leben gerufen. Alle diese Firmen hoffen, schon bald Roboter in die Fabriken zu schicken, um die Mitarbeitenden zu entlasten.

Vor allem Routineaufgaben können sie gut übernehmen, zum Beispiel Daten erfassen oder Proben nehmen – flexibel und rund um die Uhr. Ein anderer Vorteil ist, dass die Roboter Sensoren im Gepäck haben und damit überall in der Anlage Messungen durchführen können. Dadurch müssten weniger Sensoren fest installiert werden. Schwierig wird es für die Roboter, wenn Weltwissen benötigt wird. „Ein Roboter muss alles gesagt bekommen, zum Beispiel wie man Hindernisse umgeht. Einen Sack unbekannten Inhalts, also auch unbekannten Gewichts, zu greifen, ohne ihn kaputt zu machen, ist für Maschinen sehr schwierig,“ so Coulon. Er erwartet, dass die Roboter noch in diesem Jahr auf den Markt kommen können. Bislang ist zur Einarbeitung ein größeres Projektteam nötig, das den Roboter trainiert. In Zukunft könnten sie einsatzbereit verkauft werden – so wie heute schon Saugroboter für den Haushalt.

Die Serviceroboter sind nur ein Beispiel für das breite Themenfeld Digitalisierung in der Prozessindustrie. Dieses stand auch im Fokus einer Highlight-Session des ACHEMA-Kongresses. Dr. Kai Dadhe, Vice President Digital Process Technologies, Evonik Operations GmbH, verglich die digitale Transformation mit einer Reise. Sie brauche Zeit und man wisse nicht immer, wohin sie einen führt. Den wichtigsten und schwierigsten Aspekt sieht er darin, die Menschen mitzunehmen. Denn mit neuen Tools verändern sich die Arbeitsabläufe und die Art, wie wir miteinander interagieren. Außerdem müssen Mitarbeitende weitergebildet und geschult werden. Neben der sozialen Komponente sei eine gute Datenstrategie wichtig, Software müsse genau wie technische Anlagen instandgehalten werden und Technologien wie Künstliche Intelligenz (KI) und Machine Learning (ML) sollten dort implementiert werden, wo ihr Einsatz sinnvoll ist. „Wir haben uns auf die Reise der digitalen Transformation begeben. Das machen wir nicht der Tools wegen. Wir machen es, um unsere Prozesse besser, grüner und effizienter zu machen,“ sagte er.

Welche Potenziale Künstliche Intelligenz der Prozessindustrie bietet und wie die Anwendung aussehen kann, erklärte Robert Feldmann, Director EMEA Manufacturing Industries, Microsoft, in seiner Keynote: In Zukunft könnte es ein hyper-effizientes Netzwerk geben, in dem ein „großes Gehirn“ den Überblick über die lokalen Anlagen hat und Entscheidungen trifft, ähnlich dem Tower am Flughafen. Die Fabriken könnten ihre eigenen „lokalen Gehirne“ haben, die mit dem großen kommunizieren.

In Künstlicher Intelligenz steckt großes Potenzial, um bestehende Anlagen zu optimieren. „Wir müssen CO2-Emissionen reduzieren, sorgsamer mit unseren Ressourcen umgehen und weniger verschwenden. Und weniger verschwenden heißt, effizienter werden,“ sagte Robert Feldmann. Das könne nur KI erreichen, weil KI rund um die Uhr laufe. Sie mache alle 30 oder sogar alle 20 Sekunden Anpassungen und laufe dabei autonom. Auch finanziell können sich KI-Anwendungen lohnen. Pro Jahr seien Verbesserungen von mehreren hunderttausend bis Millionen Euro möglich. Die Amortisationszeit liege oft bei unter einem Jahr. In der Praxis konnte mit KI beispielsweise der Durchsatz erhöht, die Kosten für Dampf gesenkt und der Rohstoffmix optimiert werden. Aber es gibt auch Hürden. Denn KI braucht qualitativ hochwertige Daten, eine gute Datenvorbereitung, Instandhaltung und sie muss in großem Maßstab durchgeführt werden. „Wir werden keinen Mehrwert daraus ziehen, wenn wir nur hier und da ein Projekt machen. Wir müssen sie dreihundert Mal, tausend Mal, zweitausend Mal einsetzen,“ so Feldmann. Einig waren sich die Experten darin, dass KI den Menschen nicht ersetzen, sondern unterstützen wird. „Wenn Intuition gebraucht wird, brauchen wir Menschen. Das kann KI nicht,“ erklärte Kai Dadhe.

Klar ist auch, dass die Bedeutung der Digitalisierung in der Prozessindustrie in den nächsten Jahren zunehmen wird. Deshalb gab es auf der ACHEMA 2022 mit dem „Digital Hub“ eine neue Ausstellungsgruppe zu dem Thema. Hier konnten die Aussteller digitale Lösungen vorführen, mit Unternehmen ins Gespräch kommen und ihr Netzwerk ausbauen. „Durch die Exponate wird das Thema viel haptischer und die Digitalisierung anders spürbar,“ sagte Julia Lorei, Geschäftsführerin des Vereins 4.OPMC Open Production and Maintenance Community. „Der Hub ist außerdem eine gute Gelegenheit, Kontakte zu knüpfen. Denn einer allein kann die Transformation nicht schaffen. Es geht nur über Kooperationen.“ Auch für Microsoft war der Auftritt auf der ACHEMA eine gute Gelegenheit, sich mit Vertreterinnen und Vertretern der Prozessindustrie auszutauschen. „Die Messe bot uns die Möglichkeit, viele interessante, aufschlussreiche und tiefgehende Diskussionen über die wichtigsten Herausforderungen und Innovationsideen der Entscheidungsträger der Prozessindustrie und ihrer Zulieferer zu führen,“ sagte Melanie Weber, Senior Industry Executive – Process Industry bei Microsoft. „Wir haben deutlich das wachsende Interesse der Teilnehmenden gespürt, innerhalb dieses Ökosystems mit Partnern zusammenzuarbeiten, und auch eine Offenheit für die digitale Transformation und für Cloud-Lösungen.“

Manche Unternehmen sind auf der Reise der digitalen Transformation schon weit vorangeschritten, andere machen sich erst auf den Weg. Doch über kurz oder lang wird niemand um das Thema Digitalisierung herumkommen. „Allein aus Kostengründen werden sich Unternehmen digitalisieren müssen, um zu bestehen,“ sagte Tim Frie, Regionalvertriebsleiter Europa und Afrika bei der Smap3D Plant Design GmbH. „Im Moment habe ich das Gefühl, dass Viele Digitalisierung als Druck empfinden. Ich glaube, man sollte sie als Chance sehen, weil es Spaß macht, wenn Prozesse rund laufen und man seinen Horizont erweitern kann.“

Eine Aufzeichnung der Highlight-Session „Digitalisierung in der Prozessindustrie“ finden Sie in der ACHEMA-Mediathek.

Weitere Informationen zum Innovationswettbewerb „Plant Service Robot“ finden Sie hier​​​​​​​.

Autorin

Julia Biermann

Abteilung Kommunikation, DECHEMA e.V.

julia.biermann[at]dechema.de

www.dechema.de

Schlagwörter in diesem Artikel:

#automatisierung, #digitalisierung, #robotertechnik

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