15.03.2023 | Green Innovation

Chemieindustrie packt größte Transformation in ihrer Geschichte an

Es ist ein Mammutvorhaben: Bis 2050 wollen die meisten Nationen klimaneutral werden – und mit ihnen die Unternehmen der chemischen Industrie. Weil sie einerseits energieintensiv produziert, andererseits nicht ohne Kohlenstoff auskommen kann, tut sich die Chemie besonders schwer bei der Dekarbonisierung. Doch das spornt die Forscher und Ingenieure der Branche nur noch mehr an.

Die Zeit drängt und das Budget ist begrenzt. Was auf fast alle Lebensbereiche zutrifft, gilt insbesondere auch für die globalen Treibhausgasemissionen. 196 Nationen hatten sich bereits 2015 in Paris darauf geeinigt, die Erderwärmung auf unter 2 °C begrenzen zu wollen und möglichst sogar 1,5 °C nicht zu überschreiten. Was dazu notwendig ist, haben Klimaforscher errechnet – nicht nur prozentual, sondern auch in absoluten Zahlen: 2018 betrug das Emissionsbudget für das Treibhausgas Kohlendioxid noch 800 Gigatonnen. So viel CO2 durfte die Weltgemeinschaft nach Schätzungen des Potsdam Institut für Klimafolgenforschung damals noch maximal in die Erdatmosphäre entlassen, ohne die Zielmarke von +1,8 °C zu gefährden. Doch die Uhr tickt: Weil auch zwischen 2018 und 2022 fossile Energieträger genutzt wurden, hat sich das Budget seither jährlich im Mittel um 36,4 Gt verringert – ab 2023 bleiben also noch 618 Gigatonnen.

Die größten Emittenden haben sich deshalb konkrete Ziele gesetzt: China mit einem Anteil von 32,9 % der jährlichen globalen CO2-Emissionen (2021) und Russland (5,1 %) wollen bis 2060 klimaneutral werden, die USA (12,6 %) und Europa (7,3 %) bereits bis 2050, Indien (7,0 %) erst bis 2070 und die Chemienationen Japan (2,9 %) und Südkorea (1,7 %) bis 2050. Doch eine einfache Überschlagsrechnung zeigt: Die Emissionen müssen schon deutlich früher signifikant sinken, um das Budget einzuhalten. Bei unvermindertem Kohlendioxid-Ausstoß wäre das Emissionsbudget bereits 2040 ausgeschöpft.

Chemieindustrie unter Dekarbonisierungs-Druck

Eine wichtige Rolle kommt dabei der Chemieindustrie zu: Einerseits, weil diese für rund 5 % der CO2-Emissionen verantwortlich ist, andererseits weil die Chemie mit ihren Produkten den Schlüssel zu den meisten Technologien für eine klimaneutrale Wirtschaft in der Hand hat. Denn die Treibhausgas-Emissionen der Chemie haben zwei Ursachen: Die Energieerzeugung (ca. 60 %) und die chemischen Reaktionen (40 %).

Die Klimaziele, die sich die Chemieunternehmen selbst gesetzt haben, entspringen dabei längst nicht nur altruistischen Motiven. Mächtig Druck bauen inzwischen die Kapitalgeber auf: So investieren immer mehr Finanzfonds nur noch in Unternehmen, die Maßnahmen zur Reduzierung ihrer Treibhausgasemissionen ergreifen. Und auch die Tatsache, dass die größten Chemiekonzerne ihr eigenes Zeitziel zur Klimaneutralität im Einklang mit den nationalen Zielen an ihrem Firmensitz gewählt haben, kommt nicht von ungefähr: Wird das Ziel verfehlt, drohen Strafzahlungen und Betriebsverbote.

Ein Blick auf die Vorhaben der größten Chemieunternehmen zeigt, dass sich die Branche der Herausforderung stellt. Die großen westlichen Konzerne wollen spätestens bis 2050 klimaneutral wirtschaften und haben sich Etappenziele gesetzt. Der deutsche Chemiekonzern BASF will bereits bis 2030 alle fossilen Energieträger durch Strom aus erneuerbaren Quellen ersetzen. Das US-Unternehmen Dow setzt auf Stoffkreisläufe und plant, bis 2030 Kunststoffabfälle und alternative Rohstoffe zu verwenden, um dann jährlich 3 Mio. Tonnen kreislauffähige Produkte herzustellen. Exxonmobil Chemicals hat vor, bis 2030 ca. 20 bis 30 % weniger Treibhausgase als im Jahr 2016 zu emittieren. Noch ehrgeiziger sind die Pläne weiterer Großunternehmen der Chemie: Der britische Petrochemiekonzern Ineos will seine Emissionen bis 2030 um ein Drittel im Vergleich zu 2019 senken, ähnliche Ziele mit unterschiedlichen Bezugsjahren haben sich auch Mitsubishi Chemical (Japan) und Sabic (Saudi-Arabien) gesetzt.

Im Ungefähren bleibt bislang der mit Abstand größte Chemiekonzern der Welt: Die 2021 mit Chemchina fusionierte Sinochem. Neben dem allgemeinen Hinweis auf die Implementierung von Maßnahmen zur Verbesserung der Energieeffizienz verweist das Unternehmen in seinem Nachhaltigkeitsbericht für 2021 auf das generelle Ziel der chinesischen Regierung. Diese strebt die Klimaneutralität bis 2060 und ein Maximum der jährlichen CO2-Emissionen bis spätestens 2030 an.

Dabei rechnen einige Chemieunternehmen damit, dass sich die schnelle Dekarbonisierung auch wirtschaftlich auszahlen wird. Denn immer mehr Kunden achten beim Einkauf schon heute auf die Klimabilanz der Produkte. Und bilanziert werden längst nicht mehr ausschließlich Emissionen aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe (Scope 1). Auch indirekte Treibhausgasemissionen die bei eingekauften Energien (Scope 2) entstanden sind, oder in der vor- und nachgelagerten Lieferkette (Scope 3) entstehen, werden inzwischen betrachtet. So plant der Kunststoffhersteller Covestro sogar bereits 2035 im Hinblick auf Scope 1 und 2 klimaneutral zu werden und will dann zeitnah Produktkreisläufe vollständig schließen, um auch im Hinblick auf Scope 3 Klimaneutralität zu erreichen.

Die Chemieindustrie muss sich neu erfinden

Spätestens das Beispiel zeigt: Die Chemie muss sich neu erfinden. Das erfordert neue Wege in der Energieerzeugung und -nutzung, neue Formen der Kooperation zwischen Chemieunternehmen, Rohstofflieferanten und Abnehmern der Produkte und nicht zuletzt auch neue Prozesse. Obwohl die globale Chemie tausende Verbindungen synthetisiert, lässt sich das größte Potenzial zur Reduktion von Emissionen auf acht Produkte eingrenzen: 75 % der Treibhausgas-Emissionen stammen aus der Produktion von Ammoniak, Ethen, Propen, Salpetersäure, Ruß, Caprolactam, Soda und Fluorchemikalien.

Ein Ansatz in der Herstellung von Ethen und Propen ist die Entwicklung elektrisch beheizter Steamcracker. Diese wird aktuell von zahlreichen Chemiekonzernen vorangetrieben. Denn die Spaltöfen, bei denen aus Naphtha, Ethan, Propan und Butan die Grundstoffe für die Herstellung von Kunststoffen und Basischemikalien hergestellt werden, haben eine miserable Energiebilanz: Pro Tonne erzeugtem Ethen entstehen fast 700 Kilogramm Kohlendioxid. Insgesamt werden die CO2-Emissionen der global betriebenen Steamcracker auf 300 Mio. Tonnen pro Jahr geschätzt.

90 % davon entfallen auf die Beheizung des Spaltofens – und das ist die gute Nachricht. Denn gelingt es, die Öfen mit erneuerbarem Strom zu beheizen, wäre dies ein wichtiger Schritt in Richtung klimaneutrale Chemie. Aktuell arbeiten BASF, Sabic und Linde gemeinsam an einem elektrisch beheizten Steamcracker. Parallel dazu treiben Dow und Shell zusammen die Entwicklung voran. Während diese Verfahren zunächst im Pilotmaßstab getestet werden sollen, hat Ineos bereits den Bau einer Großanlage im Hafen von Antwerpen angekündigt, wobei die Technologie dafür noch offen ist: Der neue Cracker soll Ethan als Rohstoff nutzen und könnte in Zukunft ausschließlich mit klimaneutral produziertem Wasserstoff beheizt werden. Außerdem sollen beim Bau Optionen für eine CO2-Abscheidung und Speicherung (CCS) sowie elektrisch betriebene Brennöfen berücksichtigt werden.

Elektrifizierung und Kreislaufwirtschaft

Überhaupt ist die Elektrifizierung ein wesentlicher Hebel im Hinblick auf eine klimaneutrale Chemie. Wird der benötigte Prozessdampf künftig nicht mehr aus der Verbrennung fossiler Energieträger, sondern mit nachhaltig erzeugtem Strom hergestellt, lassen sich große Einsparungen bei der Emission von Kohlendioxid erreichen. Auch Wärmepumpen können dabei eine Rolle spielen: Mit erneuerbarem Strom betrieben, erlauben sie es, Dampf aus bislang ungenutzter Restwärme zu erzeugen. So untersucht aktuell die BASF gemeinsam mit MAN Energy den Einsatz einer Großwärmepumpe mit einer thermischen Leistung von 120 Megawatt am Standort Ludwigshafen.

Immer mehr Chemieunternehmen sichern sich für die Elektrifizierung ihrer Prozesse inzwischen sogar schon Stromlieferungen aus Windparks – auch aus solchen, die noch gar nicht gebaut sind. Doch die für eine strombasierte Chemie notwendigen Kapazitäten für erneuerbaren Strom sind gewaltig. In Europa wären dafür einer DECHEMA-Studie zufolge fast 50 Prozent mehr Strom notwendig, als aktuell in Europa zur Verfügung stehen. Ohne den Import von grünem oder blauem Wasserstoff, Ammoniak oder Methanol aus Regionen mit großen Kapazitäten für erneuerbaren Strom werden die meisten Chemienationen das Ziel der Klimaneutralität nicht erreichen können.

Zudem wird der vollständige Verzicht auf fossile Rohstoffe in Zukunft die Synthese von Chemikalien aus Wasserstoff und Kohlendioxid erfordern. Das Verfahren dazu – die Fischer-Tropsch-Synthese – ist vorhanden. Als Kohlendioxid-Quelle kommen beispielsweise Abgasströme aus der Zementindustrie (Sektorenkopplung) in Frage.

Wasserstoff spielt auch bei der Herstellung der mengenmäßig größten Basischemikalie eine zentrale Rolle: der Ammoniaksynthese. Bei keinem anderen Herstellungsprozess der Chemie wird so viel klimaschädliches CO2 emittiert. Bislang überwiegend per Dampfreformierung aus Erdgas gewonnen, werden dafür künftig enorme Mengen an klimaneutralem Wasserstoff benötigt. Dieser kann entweder durch Wasserelektrolyse mit erneuerbarem Strom gewonnen werden, oder durch Dampfreformierung mit anschließender CO2-Abscheidung und Speicherung (blauer Wasserstoff). Ein neuer Ansatz ist die Methanpyrolyse, die derzeit von mehreren Unternehmen und Forschungseinrichtungen entwickelt wird.

Auch eine weitere Basischemikalie basiert bislang auf Erdgas: der Alkohol Methanol. Künftig könnte dieser aus regenerativ erzeugtem Wasserstoff und Kohlendioxid aus Biomasse oder anderen Industrieprozessen (Sektorenkopplung) gewonnen werden. Eine weitere Rohstoffquelle kann künftig die Kreislaufwirtschaft liefern: So arbeiten Kunststoffhersteller an neuen Verfahren, mit denen Kunststoffabfälle durch mechanisches und chemisches Recycling zum Ausgangsmaterial für die Produktion von Basischemikalien werden. Solvolyse, Depolymerisierung oder – im Falle von gemischten Abfällen – auch die Pyrolyse liefern dabei neue Monomere oder Synthesegas, das für die Produktion neuer Kunststoffe und Chemikalien genutzt werden kann.

Neue Geschäftsmodelle und flexible Verfahren gefragt

Eine Chemie auf Basis von grünem Strom und grünem Wasserstoff wird allerdings nicht nur neue Prozesse, sondern auch neue Geschäftsmodelle benötigen: Der bisherige Ansatz einer auf 24 Stunden und sieben Tage pro Woche ausgerichteten kontinuierlichen Produktion lässt sich nicht ohne Weiteres in eine Welt mit schwankenden Strommengen und -preisen übertragen. Flexible Verfahren sind gefragt, aber auch Prozesse, bei denen Wasserstoff als Energiespeicher, Energieträger und Rohstoff eine Hauptrolle spielen wird. Unterstützt wird die Elektrifizierung von aktuellen Entwicklungen in der Elektrochemie: Diese ermöglicht chemische Umwandlungen bei niedrigeren Temperaturen und Drücken.

Effiziente Reaktionstechnik, vor allem mit neuen katalytischen Verfahren, wird einen weiteren Beitrag zu einer klimaneutralen Chemie liefern: So untersuchen beispielsweise Linde und Shell ein neues Verfahren, das Steamcracker komplett ersetzen könnte: Die Ethensynthese auf Basis einer katalytischen Dehydrierung von Ethan. Weil das Edhox genannte Verfahren bei 400 statt 850 °C abläuft, sinkt der Energiebedarf deutlich.

Überhaupt lohnt sich der Blick auf die Hochtemperaturverfahren, weil diese häufig gar nicht elektrifiziert werden können. Dazu gehören insbesondere Drehrohröfen und Hochofenprozesse, die auf biogene oder Kohlenstoff-freie Brennstoffe umgestellt werden müssen.

Doch bis die neuen Verfahren auf Basis von erneuerbarem Strom oder biobasierten Rohstoffen so ausgereift sind, dass in der globalen Chemie ein nennenswerter positiver Klimaeffekt entsteht, wird noch Zeit vergehen. Als Brückentechnologie bietet sich deshalb die Dekarbonisierung durch Abtrennen und Speichern des entstehenden Kohlendioxids an (CCS, CCUS). Damit könnten sowohl die Erzeugung von (blauem) Wasserstoff und den Grundchemikalien Ammoniak und Methanol, als auch höherwertiger Chemikalien wie Ethen, Propen oder Aromaten dekarbonisiert werden. Limitierender Faktor ist hier bislang die Verfügbarkeit von CO2-Lagerstätten und fehlende Abscheidekapazitäten. Das IPCC der Vereinten Nationen schätzt, dass bis 2050 jährlich mindestens 4 Gigatonnen CO2 über Carbon-Management-and-Removal-Technologien eingespart werden müssen, damit das 1,5-Grad-Ziel erreicht werden kann.

Investitionen brauchen wettbewerbsfähigen Rahmen

Die Maßnahmen hin zu einer klimaneutralen Chemie sind nicht zum Nulltarif zu haben. Allein in Europa werden dafür nach Schätzungen von Accenture und NexantECA Investitionen in Höhe von 1 Billion Euro notwendig werden. Und die Zeit drängt, denn neue Anlagen haben eine typische Lebensdauer von 30 bis 50 Jahren – das heißt, sie sollten auch unter dem Primat der Netto-Null-Emissionen betrieben werden können.

Dass dies technisch möglich ist, davon ist die Industrie überzeugt. So heißt es in der DECHEMA-Studie „Roadmap Chemie 2050“: „Der umfassende Einsatz neuer Technologien erlaubt es, das Ziel der fast vollständigen Treibhausgasneutralität im Jahr 2050 noch zu erreichen.“

Autor

Armin Scheuermann

Chemieingenieur und freier Fachjournalist

Schlagwörter in diesem Artikel:

#wasserstoff, #nachhaltigkeit, #klima, #co2, #energie

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